Der Begriff Chaine (Kette) in Figurentänzen des 18. Jahrhunderts
Das Museumsdorf Cloppenburg brachte 1984 ein Buch heraus:
Tänze und Gebrauchsmusik ... aus dem Artland.
Darin wiedergegeben sind u.a. drei Manuskripte eines ländlichen Tanzmeisters
J. W. Heine mit Choreographien vom Ende des 18. Jahrhunderts.
Es handelt sich um 100 Tänze im englischen Stil.
Dieser Stil kam aber durch französische Vermittlung nach Deutschland.
Der französische Einfluß ist offenkundig durch die verwendeten
französischen Begriffe, aber auch dadurch, daß die Tanzformen
durch Zeichnungen mit eingestreuten Erläuterungen festgehalten sind.
Diese Art der Darstellung ist eine französische Erfindung.
Die englischen Tanzbücher jener Zeit beschränkten sich auf verbale Beschreibungen.
Um die verschiedenen Formen der Chaine verbal zu beschreiben, brauche ich den Begriff
des Contra-Corners. In einer Contra-Gasse steht der Partner gegenüber.
Rechts neben dem Partner steht der erste Contra-Corner,
links neben dem Partner der zweite Contra-Corner.
(Rechts und links von der eigenen Position aus gesehen.)
Die älteste Form der Chaine geht so: Vier Personen stehen sich zwei und zwei gegenüber.
Die ersten Contra-Corner tauschen die Plätze; die zweiten Contra-Corner tauschen die Plätze.
Dann tauschen die ersten Contra-Corner wieder zurück, und die zweiten Contra-Corner
tauschen zurück. Diese Abfolge wurde m.E. Chaine genannt, weil die Tanzwege - zwei sich
überkreuzende Ellipsen - an zwei Glieder einer Kette erinnern.
Das Motiv ist sehr alt und kommt bereits in der ersten Auflage von Playfords
English Dancing Master mehrfach vor - dort allerdings ohne einen eigenen Namen.
Diese Chaine wurde 1784 auch von dem Tanzmeister Joseph Lanz in seinem Portefeuille Englischer Tänze
eingesetzt, wie die zugehörige Zeichnung deutlich zeigt. Lanz verwendet allerdings nur
die Demie Chaine (halbe Kette), also bis zum Platz schräg gegenüber; dann bringt er
die Tänzer mit einer Demie Ronde (Kreis halb herum) auf die Ausgangsplätze zurück.
Der Tanz Cuckolds all a Row aus der ersten Auflage von Playfords Dancing Master
hat im zweiten B-Teil genau diese Abfolge.
J. W. Heine hat die Chaine nur gezeichnet, wenn sie um eine passive Position herum getanzt wurde,
z.B. bei der Ketten-Ecosaise (a.a.O. S. 41). Hier tanzen die Paare 1 und 3
Die Chaine um das 2te Paar.
Es gibt bei Heine weitere 30 Tänze, bei denen lediglich Chaine 4 in ein Feld
eingetragen ist, meist als Abschluß einer Tanzfolge. Es könnte hier auch eine Figur
in der Art der Deutschen Kette (Circular Hey im Country Dance, Square Thru im Square Dance)
gemeint sein: gegenüber rechte Hand geben und vorbei, dem Partner linke Hand und vorbei,
wieder gegenüber rechte Hand und vorbei, am Partner linke Hand vorbei zum Ausgangsplatz.
Diese Form ist mit der oben beschriebenen ohne Weiteres austauschbar.
Darüber hinaus gibt es weitere 10 Gassentänze, die mit einer Chaine a Siess
(Kette zu Sechsen) enden. Zu dieser Chaine gibt es keine Zeichnung; aber zum Glück
gibt es 3 weitere Tänze mit einer halben Chaine a Siess, und man kann aus der ersten
Hälfte auf die zweite schließen: In einer Untergruppe von 3 Paaren steht
das aktive Paar in der Mitte. Die Aktiven geben sich die rechten Hände, drehen so weit,
daß sie dem ersten Contra-Corner begegnen, und drehen mit diesem um die linken Hände.
(Das ist die halbe Chaine a Siess.) Die Aktiven drehen wieder um die rechten Hände so weit,
daß sie dem zweiten Contra-Corner begegnen, drehen mit diesem um die linken Hände,
und kehren auf ihre Plätze zurück. Im amerikanischen Contra-Dance ist dieser Ablauf
als Turn Contra-Corners bekannt.
In zwei Gassentänzen kommt eine Stehende Chaine vor. Auch hier tanzen die Aktiven
in der Mitte einer Untergruppe von drei Paaren. Sie drehen um die rechten Hände so weit,
daß sie dem ersten Contra-Corner die linke Hand geben können.
In dieser Wellenlinie werden Balance- Schritte getanzt (die durch ein "-Zeichen angedeuted werden).
Nun drehen die Aktiven so weit, daß sie dem zweiten Contra-Corner die linke Hand geben können,
und in dieser neuen Wellenlinie werden wieder Balance-Schritte getanzt.
Offenbar kommt der Name dieser Figur von ihrer Ähnlichkeit mit der Chaine a Siess.
Ganz allgemein wird ab der Mitte des 18. Jahrhunderts jede Figur als Chaine bezeichnet,
bei der abwechselnd die rechten und die linken Hände gegeben werden.
J. W. Heine hat auch einige 4-Paar-Tänze aufgezeichnet (und teilweise als Quadrille, als Cottilion
oder als Contre- Tanz bezeichnet). Hier kommt dreimal eine Franse Chaine Ballanse vor,
also eine französische Kette, bei der zwei Paare die Plätze tauschen.
(Diesen Begriff habe ich sonst nirgendwo gefunden.)
Vermutlich wurde sie so getanzt: Dem Gegenüber die rechte Hand geben,
Balance und Platztausch; dem Partner die linke Hand geben, Balance, Platztausch und ausrichten.
Im Grunde entspricht dies einer (halben) englischen Kette.
Natürlich gibt es in diesen Tänzen die Chaine Grande, also die große
Kette, die ganz herum bis zum Ausgangsplatz getanzt wurde. Und es gibt eine hübsche Abart
(Die Strauß-Quadrille, a.a.O. S. 43; Cottilion mit der Wickel-Chaine, a.a.O. S. 67):
Viertel Chaine Grande, ohne Handt geben, und mit der überstehenden Dame Rundt;
wieder dasselbe. Also: Am Partner rechtsschultrig vorbei, am Nächsten linksschultrig
vorbei, mit dem ursprünglichen Gegenüber Paarkreis; wieder rechtsschultrig
und linksschultrig vorbei, mit dem Partner Paarkreis und auf dem Gegenplatz ausrichten.
(Danach folgte Franse Chaine Ballanse, für die Kopfpaare und für die Seitpaare,
was alle wieder zum Ausgangsplatz brachte.)
Zugrunde liegende Schriften:
Hartmut Braun: Tänze und Gebrauchsmusik in Musizierhandschriften des 18. und frühen
19. Jahrhunderts aus dem Artland. (Materialien zur Volkskultur nordwestliches Niedersachsen,
Museumsdorf Cloppenburg, 1984)
Karl Heinz Taubert: Die Anglaise, mit dem Portefeuille Englischer Tänze von Joseph Lanz,
Berlin 1784 (Musikhaus Pan AG, Zürich, 1983)
John Playford: The English Dancing Master (London, 1651 / Reprint by Dance Horizons, New York)
(Wenn du die Zeichnungen anklickst, siehst du sie in doppelter Größe)
English Version
Veröffentlicht 2006-12-24
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Heiner Fischle, Hannover
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